Rezension: Bernd Hüttner, Archive von unten. Bibliotheken und Archive der neuen sozialen Bewegungen und ihre Bestände, Neu-Ulm 2003

Die Öffnung von Archiven, verstanden als Herrschaftswissensspeicher, ist ein Akt der Reife für die Errungenschaften und Zivilisation eines Landes (s. Deutschland 1989) oder seine Überwältigung (s. Irak 2003). Die Neugründung von Archiven ist Ausdruck der Reife und Kultur von bis dahin organisatorisch nicht gefestigten Bewegungen und Initiativen in der Gesellschaft. Archivneugründungen können Ausdruck davon sein, dass eine Erinnerungsgemeinschaft in die Jahre gekommen ist und sich die Strukturen schafft, um dauerhaft und fachlich organisiert in ihre eigene Geschichte zurückschauen zu können. Viele Archivneugründungen hatten keinen Bestand, waren sie doch eher Ausdruck des unbändigen Wunsches, "Geschichte" vorzeigen zu können, statt eines nachhaltigen Ansatzes. Kurzlebige Archivprojekte verneinen ihr Ansinnen. Jede Internet-Seite, die heutzutage etwas auf sich hält, schmückt sich gern mit der Hype ‚Wo sind die älteren Dokumente geblieben?‘ und nennt dieses Link dann in völliger Verkennung der Tatsachen "Archiv". Der willkürliche Umgang mit dem Archivbegriff, dessen Image immer noch mit immenser Nachhaltigkeit verknüpft ist, gehört heutzutage zum sprachtechnischen Standard in der EDV-Branche, die damit ihre kurzlebigen Produkte wertiger redet. Die sprachliche Nachhaltigkeitstäuschung ist auch in der Welt der Stadtarchive noch frisch in Erinnerung: Wer hat die "Stadtteilarchive" gezählt, die um 1985 in deutschen Großstädten im Geiste des ‚Grabe, wo Du stehst!‘ gegen die vorgeblich konservativen etablierten Archive begründet worden waren? Wer zählt die Mittel aus öffentlichen Kassen, die diesen zugesprochen wurden, während die vorhandenen Archiveinrichtungen am Bettelstab daneben standen und leer ausgingen? Fünfzehn Jahre danach sammeln die etablierten Stadtarchivare die Überreste der entschlafenen Stadtteilarchive wieder auf (wenn sie rechtzeitig von den Entrümpelungsaktionen hören). – Vor vergleichbaren Problemen steht das Gros der hier handbuchartig erfassten Einrichtungen. Ich mache keinen Hehl daraus, dass mir diese Situation nicht gefällt und bitter aufstößt, weil ein eventuell gemeinsames Anliegen sehr geschwächt wird.

Die hier anzuzeigende Veröffentlichung bietet den derzeit ausführlichsten Einblick in die Welt der Archive und Bibliotheken von und für soziale Bewegungen in Deutschland sowie in einigen Nachbarstaaten. Nicht nur wegen der starken "Geburtenrate" dieser Einrichtungen in den vergangenen 30 Jahren ist eine Orientierung unbedingt notwendig. Auch das "Ableben" der vielfach nur ehrenamtlich geleiteten Archive und Bibliotheken ist beunruhigend; verschwinden doch mit ihnen unwiderbringliche Schätze. Vorgestellt werden über 250 aktive (lebende) Einrichtungen; der Umfang einer Vorstellung zur Charakterisierung reicht von zwei bis drei Seiten (z.B. Archive der Robert-Havemann-Gesellschaft, Berlin, S. 72-75) oder Archiv für alternatives Schrifttum (afas Duisburg, S. 29 bis 31) bis hin zu Minieinträgen von vier bis sechs Zeilen: z. B. FrauenStadtArchiv Dresden (S. 42) oder die Umweltbibliothek in Stolpe (S. 115). Im Minimalfall findet man nur postalische Adresse und/oder Telefon, Fax, E-Mail, Internet-Präsenz. Ausführlichere Darstellungen einer Einrichtung berücksichtigen ergänzend: Öffnungszeiten, Jahr der Gründung, Angebote und Dienstleistungen, technische Ausstattung für NutzerInnen, das Archiv- und Bestandsprofil, Auskünfte, Art und Grad der Erschließung, Themenschwerpunkte und Veröffentlichungen. Thematisch decken die hier vorgestellten Einrichtungen folgende Felder ab: Feminismus, Antifaschismus, Arbeiterbewegung/Sozialgeschichte, Bürgerbewegung/DDR-Opposition, Innere (Un-)Sicherheit/Repressionen, Internationalismus, Kultur, Militanz/Anarchismus, Nationalsozialismus, Ökologie, Schwule und einiges mehr. Ist es noch erforderlich, hervorzuheben, dass die politische Richtung dieser Einrichtungen im Spektrum von "Links" bis "Grün" angesiedelt sind? Die mit angeführten Parteiarchiveinrichtungen von PDS, Grünen und SPD (S. 94 – 98) geben Gewissheit für Zweifler: Die Archive der bürgerlichen Parteien sind nicht aufgenommen worden.

Dem eigenen Anspruch nach soll diese Publikation "bei der Suche nach Material aus den und über die neuen sozialen Bewegungen helfen und die vielfältige Szene der Archive von unten mit ihren einmaligen Sammlungen bekannter machen" (S. 7). Der Bearbeiter hat dafür im Frühjahr 2003 Fragebogen versendet, die er z. T. auch statistisch ausgewertet hat (S. 137- 147). Wer sich einer solchen Arbeit bereits einmal unterzogen hat, kennt das mühsame Geschäft: angefangen bei den nicht immer vollständig zurücklaufenden Fragebögen bis hin zu dem Problem, zu einer vernünftigen Auswertung der Ergebnisse und praxisgerechten Darstellung zu gelangen. Nach meiner Einschätzung ist es nicht gelungen, die Ergebnisse in dem Führer "Archiv von unten" praktisch und nützlich für den Leser zu organisieren. Das hängt damit zusammen, dass der Bearbeiter eine gegliederte Darstellung im Adressteil (S. 21 – 136) gewählt hat, die einen willkürlichen und chaotischen Eindruck hinterlässt. Die Reihenfolge im Adressteil richtet sich z. T. nach der Größe einer Einrichtung, z. T. nach ihrer Funktion im Links-Grünen-politischen Spektrum (Netzwerke), z. T. nach inhaltlichen Schwerpunkten (Frauenarchive), z. T. nach thematischen Sammelschwerpunkten (Antifaschismus) und z. T. schlicht nach Postleitzahl (S. 102 – 136). Dieser Zuordnungssubjektivismus hinterlässt beim Leser Ratlosigkeit. Eine gewisse Abhilfe und Orientierung im Chaos versprechen ein Namensregister (nur Körperschaften, keine Personen) und ein Ortsregister. Beide Register sind jedoch eher für den bereits informierten Spezialisten hilfreich, als für den Neuling, der sich erstmalig orientieren möchte. Als Beispiel mag das Thema Frieden/Friedensbewegung im 20. Jahrhundert dienen – zweifellos ein bedeutender Faktor auch im Spektrum der hier im Mittelpunkt stehenden neuen Bewegungen. Da es ein Sachregister, in dem Frieden- und Friedensbewegung aufgesucht werden können, nicht gibt, bleibt dem interessierten Nutzer ausschließlich ein komplettes Durchblättern aller Seiten im Adressteil, da diese Kategorie für den Bearbeiter anscheinend nicht von Bedeutung war. Im Namensregister der Körperschaften findet man also zum Thema lediglich die Friedensbibliothek in Berlin (S. 107). Dass man aber einen brauchbaren Fundus von Broschüren, Plakaten, Flugblättern, Aufklebern usw. zur jüngeren Friedensbewegung in der Dokumentationsstelle für unkonventionelle Literatur in Stuttgart bekommt (S. 34), kann der Benutzer nur über Stöbern im Gesamtband entdecken. Wenn das Interesse noch präziser ist (z. B. an der Geschichte der Ostermärsche und einschlägigem Archivmaterial), dann bringt dieser Führer keinerlei Hinweise.

Der "Reader" (S. 137), wie er sich selbst verschiedentlich bezeichnet, verzichtet nahezu ganz auf Hinweise zu öffentlich-rechtlichen Archiven. In der Sache wäre dies allerdings unbedingt erforderlich. Der Bearbeiter selbst weist darauf hin, dass öffentliche Einrichtungen nicht selten die Auffangstationen von Archiv-Initiativen sind, die irgendwann im Rahmen ihrer Ehrenamtlichkeit nicht mehr selbständig existieren können (S. 15). Frühere Archive von sozialen Bewegungen finden sich dann wieder in Stadtbibliotheken und Kommunalarchiven. Die Konsequenz daraus, diese nicht mehr selbständigen "Archive von unten", auch in den "Archivführer von unten" aufzunehmen, vermisst man leider. Eine gewisse Wagenburgmentalität ist also bei diesem Reader unverkennbar. Das ist schade um der Sache willen, denn alle genannten Einrichtungen wollen ja der historischen Aufarbeitung der jeweiligen sozialen Bewegungen dienen. Forschungsinteressierte und Archivare sind darauf angewiesen, einen umfassenden Überblick über die Zugänglichkeit von einschlägigen Spuren und Quellen zu bekommen. Als ein Vorbild hierzu darf der Archivführer "Die Studentenproteste der 60er Jahre" (Köln 2000) gelten. Er macht vor, wie heterogen das Gedächtnis einer Bewegung in der vielgliedrigen [etablierten und alternativen] bundesrepublikanischen Archivlandschaft strukturiert sein kann.

Fazit: Um zu einem annähernd befriedigenden Überblick zu kommen, dürfen keine falschen Schranken zwischen alternativer (links-grüner) und öffentlich-rechtlicher Trägerschaft von Archiven aufgebaut werden. Der vorgelegte Führer "Archive von unten" kann als Versuch gewertet werden, eine hilfreiche Orientierung zur Verfügung zu stellen. Damit der "Reader" seinen eigenen Anspruch erfüllen kann, muss er sich stärker bemühen, den Status eines Handbuchs zu erlangen. Für eine kommende Auflage, die zu erhoffen ist, wäre also manche Verbesserung wünschenswert, nicht zuletzt die Beachtung des vom Bearbeiter für unwichtig erklärten Unterschiedes von Archiven und Bibliotheken. Bei aller Kritik muß aber auch festgehalten werden, dass es keine Alternative zu dem Reader "Archive von unten" gibt. Der Pioniergeist des Bearbeiters verdient Anerkennung. Wer Adressen, Internetangebote und Hinweise für diesen Bereich sucht, kommt an dieser Veröffentlichung nicht vorbei.

Karljosef Kreter



Erschienen in Archiv-Nachrichten Niedersachsen, der Zeitschrift der Arbeitsgemeinschaft Niedersächsischer KommunalarchivarInnen,(ANKA) Heft 7/2003, S. 120-122. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autor.