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Rezension

GdV-Team (Hrsg.): Gegen das Vergessen. Sozialrevolutionärer Widerstand und Verweigerung in Deutschland



Unrast Verlag, Münster 1999, 332 Seiten, 29,80 DM

Gemeinhin gilt die autonome Bewegung als noch geschichtsloser als die restliche Linke. Mit der Geschichtsserie Gegen das Vergessen wollte die bekannteste autonome Zeitschrift radikal der autonomen Bewußtlosigkeit und Unkenntnis über weiter zurückliegende Ereignisse entgegentreten. In einem Nachdruck sind nun die ab radikal Nr. 139 (vom November 1989) erschienen elf Folgen dieser Serie zu sozialrevolutionärem Widerstand und Verweigerung in Deutschland nachzulesen. Zeitlich und inhaltlich spannt sich der Bogen von den Hexenverfolgungen über die Entstehung der neuzeitlichen Sexualität, von Kindheit und Familie bis zu den Anfangsjahren der DDR 1953. Den Schwerpunkt bilden die Weimarer Republik, die Zeit des Nationalsozialismus, Stalinismus und die unmittelbare Nachkriegszeit in Ost- und Westdeutschland. Den Abschluß bilden zwei Folgen zu Erziehung, Patriarchat und Sexualität. Die radikal-AutorInnen wollen in ihren Beiträgen die Geschichte von Widerstand und Verweigerung sichtbar machen und die Geschichte derjenigen, die in der HERRschenden Geschichtsschreibung nicht oder falsch beschrieben werden, an die Öffentlichkeit tragen. Dieses Vorhaben lösen sie ausführlich und vielfältig ein. Ihre Serie ist nicht dem Ideal der kommunistischen Geschichtsauffassung vom mächtigen Arbeiter verpflichtet, der heldenhaft und unbeirrt seinen Widerstand praktiziert. Sie richten ihren Blick auf alltägliche und auch unstetige Prozesse von Organisation und Subversion, von Aneignung und Sabotage, auch jenseits der gängigen linken Organisationen. Dem Buch ist eine Unmenge interessanter Dinge zu entnehmen - trotzdem ist sein Grundtenor zu kritisieren. Im guten Vorsatz, die Geschichte von Widerstand zu schreiben, geraten die AutorInnen in Gefahr, die Menschen, die ihrer Ansicht nach Widerstand leisten und sich verweigern vor allem als Subjekte und weniger als Objekte von Herrschaft zu betrachten. So schreiben die AutorInnen Vergangenheit als Geschichte von Widerstand und malen so ein Bild, das z.B. die Zeit des Nationalsozialismus vor allem als die Widerstandes gegen ihn auffasst, was eindeutig falsch ist. Noch schiefer wird das Bild im Beitrag zum Lagersystem des NS. Auch wenn es unbestritten wichtig ist, zu zeigen, dass Widerstand gegen die Nazis möglich war (und auch vereinzelt stattfand), darf doch nicht übersehen werden, dass die meisten Opfer eben Åberhaupt keine Möglichkeit zum Widerstand hatten. Über die Hälfte aller Holocaust-Opfer wurde in einem der sechs grossen Vernichtungslager ermordet, die so barbarisch waren, dass denjenigen, die aus ihnen flüchten konnten, ihre Berichte nicht geglaubt wurden. Die Hälfte aller Holocaust-Opfer wurde im relativ kurzen Zeitraum März 1942 bis Februar 1943 getötet, die meisten von ihnen wurden, für sie völlig überraschend, unter freiem Himmel erschossen. Trotz der Kritik ist Gegen das Vergessen ein wichtiges und nützliches Buch, das sowohl Grundlagen wie auch die Anhaltspunkte für eine weitergehende Beschäftigung mit der Geschichte von Widerstand und Verweigerung liefert - auch gegen den modischen Trend in der akademischen Geschichtsschreibung, der Geschichte von unten mittlerweile in eine politisch harmlose kulturelle Alltagsgeschichte verwandelt hat.

Bernd Hüttner


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