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Sammeln und Abheften - Archive der sozialen Bewegungen im Überblick


von Gottfried Oy

Veröffentlichungen sozialer Bewegungen werden von staatlichen Archiven, die immer noch in erster Linie an "amtlichem" Schriftgut orientiert sind, nur lückenhaft gesammelt. So genannte graue Literatur und illegalisierte Schriften finden selten den Weg in institutionalisierte Sammlungen. Bewegungsarchive, d. h. Archive, die von sozialen Bewegungen selbst gegründet und unterhalten werden, sind aber nicht nur deshalb unverzichtbarer Baustein in der kritischen Auseinandersetzung mit Bewegungsgeschichte, weil sie über einzigartige Dokumente verfügen. Die meist ehrenamtlichen Bewegungsarchivare und -archivarinnen verstehen sich oft selbst als Teil politischer Bewegungen und verfügen über ein wertvolles Wissen über die sozialen Kämpfe - wenn auch ihre Tätigkeit des Sammelns und Abheftens in den Bewegungen oft nicht sehr angesehen ist.
Die großen Sammlungen wie Papiertiger in Berlin oder das Archiv der sozialen Bewegungen in Hamburg haben wohl noch einen gewissen Bekanntheitsgrad, wer weiß allerdings beispielsweise von der Existenz des Plakatarchivs Uwe Bordanowicz in Bruchsal, des Ökodorf-Archivs in Hausen oder der Umweltwerkstatt Wetterau? Wohl nur Eingeweihte. Während in der Blütezeit der sozialen Bewegungen der 1970er und 1980er Jahre regelmäßig aktualisierte Archivreader die zahlreichen Spezialsammlungen bekannt machten, ist seit mehr als zehn Jahren keine entsprechende Veröffentlichung mehr erschienen.
"Archive von unten" ist seit 1990 die erste Publikation, die die deutschsprachigen Bewegungsarchive - Hüttner kann insgesamt 276 nachweisen - mit Archiv- und Bestandsprofil, Angeboten, technischer Ausstattung und Arbeitsweise auflistet und macht sich schon allein damit zum unverzichtbaren Nachschlagewerk. Bernd Hüttner, Gründer des Bremer Archivs der sozialen Bewegungen und den Contraste-LeserInnen als regelmäßiger Autor bekannt, hat sich darüber hinaus mit dem Selbstverständnis der Bewegungsarchive auseinander gesetzt und in einer Darstellung kritischer Geschichtszeitschriften und ihrer Arbeitsschwerpunkte einige Schwachstellen der kritischen Geschichtsarbeit benannt: Da wird von Hüttner das Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen als "Plattform für modische Teildisziplinen aus Politikwissenschaft, Soziologie und Sozialpsychologie" (dis)qualifiziert.
Hüttner beobachtet einen Konservatismus in der Geschichtsschreibung der sozialen Bewegungen, die noch hinter die Standards von Sozialgeschichte, Geschichte der Arbeiterbewegung, Alltagsgeschichte und oral history zurück falle. Der Abschied von der "patriarchalen Ereignis- und Politikgeschichte", den er auch jüngst auf der Tagung "Making History - Positionen und Perspektiven kritischer Geschichtswissenschaft" des bundesweiten Arbeitskreises Kritische Geschichte im Oktober an der Universität München forderte, sei von den sozialen Bewegungen noch lange nicht vollzogen. Hüttner erkennt zwar an, "dass die akademische Geschichtsschreibung mit Geschlechter-, Alltags- und Mentalitätengeschichte innovativer als die Geschichtsschreibung über die bzw. aus den linksradikalen Bewegungen ist", fordert aber dennoch ein außerinstitutionelles Engagement in der Geschichtsarbeit ein. Für eine solche Arbeit an einem "kollektiven Gedächtnis" spreche, dass nur eine solche "kritische Aneignung der Geschichte von politischem Protest" explizit politische Fragestellungen gegenüber wissenschaftlichen Interessen in den Vordergrund stelle und zudem die Rekonstruktion schon geführter Debatten vor einer ewigen Wiederholung politischer Interventionen bewahre.
Hüttners Kritik an der akademisch orientierten Geschichtsschreibung über soziale Bewegungen verweist auf die Foucaultschen Problematisierung der Wissensproduktion als integralem Bestandteil der Reproduktion herrschender Machtstrukturen. Es wird hier die Frage aufgeworfen, inwieweit es nicht im Interesse sozialer Bewegungen liegen müsste, Formen alternativer Wissensproduktion zu etablieren und eine neue außerakademische Theoriearbeit anzuleiten, die genau am politischen Problem einer Geschichtsschreibung ansetzt, die sich nicht als Teil der Reproduktion eines vorherrschenden Wissenskanons versteht. Anders, wie noch vor nahezu 80 Jahren der westliche Marxismus als Grundstock kritischer Wissenschaft für seine Etablierung an den Universitäten und Akademien kämpfte, um die damals virulente politische Frage des Scheiterns der Revolution institutionell abgesichert wissenschaftlich bearbeiten zu können, so steht vielleicht heute - in Zeiten der Abwicklung kritischer Sozialwissenschaften an den Universitäten - der Weg aus den Akademien in die sozialen Bewegungen an, um die Frage der politischen Interventionsfähigkeit auch auf Grundlage der kritischen Aufarbeitung der Geschichte der sozialen Bewegungen neu diskutieren zu können. Die Archive der sozialen Bewegungen stellen dabei mehr als ein Grundstock kritischer Geschichtsarbeit dar.


Hüttner, Bernd 2003: Archive von unten. Bibliotheken und Archive der neuen sozialen Bewegungen und ihre Bestände. Neu-Ulm: AG SPAK Bücher, 180 S., 15 EUR, www.leibi.de/archive

Veröffentlicht in Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, H. 1/2004 und Contraste, Februar 2004.

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