Jochen Gester/Willi Hajek (Hrsg.): 1968 - und dann? Erfahrungen, Lernprozesse und Utopien von Bewegten der 68er Revolte; Atlantik Verlag; Bremen 2002, 218 S., 10 EUR Bernd Hüttner
Das Bild von "1968" wird heute durch die Staats-Linke geprägt, die ihren Marsch durch die Institutionen abgeschlossen hat und die Vergötzung des Kommunismus spätestens Mitte der 80er durch die Anbetung von Marktwirtschaft und Demokratie ersetzt hat. So werden Figuren wie z.B. führende Grüne als VertreterInnen der politischen Generation angesehen, die das Erbe von "68" verkörpere. Die elf, leider durchweg männlichen Autoren des hier vorliegenden Bandes wollen dem entgegentreten und auf mehrere Dinge hinweisen: Sie bestreiten zum einen den Alleinvertretungsanspruch der Staatslinken, die noch heute von dem moralischen Kapital zehren kann, das sie sich in einigen, angeblich wilden Jugendjahren erworben hat. Sie weisen vehement daraufhin, dass die 68er-Bewegung Demokratie (wenn nicht gleich Sozialismus) auch hinter dem Werkstor erreichen wollte, ein uneingelöster Anspruch, von dessen Verwirklichung mensch heute weiter entfernt ist als 1959 und sie rufen in Erinnerung, dass persönliche und soziale Emanzipation "1968" eine große Rolle gespielt hat, diese ebenfalls nicht völlig eingelöst ist, ja nie völlig eingelöst sein kann und nicht zuletzt heute eine große Rolle spielt. Damit befinden sich die Autoren weit jenseits ihres vorrangigen Bezugsrahmen: der Gewerkschafts- und ArbeiterInnenbewegung. Nicht zuletzt vertreten sie diejenigen "68er", deren Lebenslauf nicht an der Universität seinen Ausgangs- oder Endpunkt findet.
Die Beiträge sind meist autobiographisch geprägte Texte von gewerkschaftlich und betrieblich engagierten Linken, die um "68" bzw. kurz danach politisch sozialisiert wurden. Sie schildern die alltäglichen kleinen und größeren Kämpfe am Arbeitsplatz, im Wohnumfeld oder in der Gewerkschaft. Einige Beiträge thematisieren auch Veränderungen in Betrieb und Gesellschaft und beleuchten, wie sich Arbeiterpolitik in den letzten Jahrzehnten verändert hat. Werner Imhof kritisiert z.B. scharf, dass die Gewerkschaftsklinke immer noch davon ausgehe, eine konsequente Interessenpolitik sei tendenziell schon sozialistisch.
Die meisten Artikel sind aber Beiträge, in denen die Autoren über ihr Leben, ihre Erfolge und Niederlagen berichten. Es ist leicht auszurechnen, dass die Autoren heute zwischen 50 und 60 Jahre alt sind. Man kann erfahren, mit welch großem Kraftaufwand sie ihre politischen Positionen vertraten und vertreten und wie mutmachend die heutige Bewegung gegen Globalisierung für sie ist. Der Band ist ein Beitrag, in dem das Leben und Wirken von "unbekannten" Linken festgehalten und veröffentlicht wird, das sonst kaum und erst recht nicht in Form eines Buches dokumentiert wird. Es ist ein Beitrag zu einer Alltags-Geschichte "von unten" vor allem der 70er Jahre.
Erschienen u.a. in Contraste vom März 2002.