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Rezension

Bernd Drücke: Zwischen Schreibtisch und Strassenschlacht. Anarchismus und libertäre Presse in Ost- und Westdeutschland


Verlag Klemm und Oelschläger, Ulm 1998, 640 Seiten, 59,80 DM

Bernd Drücke will mit dem aus seiner Münsteraner Dissertation entstandenen Buch die "Geschichte der libertären Zeitschriften und Rundbriefe für die Nachwelt erhalten". Er gibt einen historisch-chronologischen überblick über die Entwicklung der libertären Presse in der BRD und der DDR bis einschliesslich 1995. Seine Arbeit schliesst an die Veröffentlichung von Holger Jenrich (Anarchistische Presse in Deutschland 1945-1985, Grafenau 1988) an. Drücke hat selbst mehrere tausend Zeitschriftenexemplare gesammelt, an der Arbeit selbst hat er fünf Jahre lang gearbeitet, einige einschlägige Bewegungsarchive besucht und vielfältig recherchiert.
Nach einer kurzen, weniger spannenden Einleitung in dem Herrschaft und Anarchie vorläufig begrifflich definiert werden, folgen zwei kurze Abschnitte zur anarchistischen Presse der Bundesrepublik 1949-1968 und der von 1968 bis 1985. Dann werden alle libertären Zeitschriften vorgestellt, die vor 1985 gegründet wurden, und im Jahre 1985 noch erschienen sind. Hier tauchen die bekannteren Titel der libertären Szene wie z.B. Graswurzelrevolution, Schwarzer Faden, Direkte Aktion, aber auch radikal auf.
Danach werden für 1986 bis 1995 die meisten Zeitschriften näher vorgestellt, die in einem Jahr neu gegründet wurden. Dieser Abschnitt ist der wichtigste des Buches, hier ist es am tiefgehendsten. Die einzelnen Titel - um nur einige bekanntere zu nennen: Unzertrennlich, Interim, PROJEKTil, Land unter, Ruhrgebietsinfo - werden vorgestellt und ihre Entwicklung nachgezeichnet. In einem zwangsläufig sehr viel kürzeren Kapitel geschieht nach dem selben Muster dasselbe für das Gebiet der ehemaligen DDR (bis zu deren Auflösung 1990). Drückes separat abgedruckte Bibliographe umfasst insgesamt 475 erfasste Titel für die BRD und 21 für die DDR. Sie enthält, sofern bekannt, Untertitel, Erscheinungsort, -weise und -zeitraum, Auflage, Vor- und Nachfolgeprojekte, Anschrift und weitere Bemerkungen, ein Standortnachweis findet sich nicht. In einem abschliessenden Resümee ordnet Drücke viele Titel den elf verschiedenen, von ihm aufgestellten "Strömungen des Neoanarchismus" zu, geht kurz auf die Kriminalisierung libertärer Medien ein und deutet die Vielfalt und auch die Kurzlebigkeit libertärer Presse als ihre Stärken, da diese sich auch als Wandlungsfähigkeit, Vernetzung und Fähigkeit der Selbsterneuerung deuten lassen. Drücke hat in bislang einmaliger Form Informationen zusammengetragen, sein Buch ist eine wahre Fundgrube. Es hat aber auch den Nachteil, dass es sich politischer Wertungen, die über eine vage postulierte Relevanz libertärer Ideen, etwa in den CASTOR-Protesten, hinausgehen, weitgehend enthält. Untersuchungen über die Rezeption libertärer Presse fehlen mangels auswertbarer Daten weitgehend, so kann auch Drücke diese nicht referieren und liefert auch selbst keine. So sind aber Aussagen über die Relevanz libertärer Presse jenseits von Floskeln kaum möglich. Problematisch ist auch das Verhältnis zwischen libertärer und autonomer Presse, sind doch die Autonomem eine weit grössere linksradikale, aber eben nur sehr eingeschränkt mit der libertären identische Strömung. Drücke macht zwar diese wichtige Unterscheidung, um sie dann doch wieder aufzuheben, indem er eine Rubrizierung "autonome Presse mit libertärer Tendenz" einführt, unter die er dann nahezu alle Zeitschriften der Autonomen einordnet. Dies hat den Vorteil, dass jene nun endlich wissenschaftlich, wenn auch nicht vollständig aufgearbeitet sind - dem Untertitel von Drückes Arbeit entspricht es aber nicht.
Drücke hat eine Veröffentlichung vorgelegt, die für die Auseinandersetzung mit diesem Spektrum der sozialen Bewegungen wichtig ist. Nicht zuletzt ist es ein schönes Buch für die Bibliophilen und Sammler, von denen es auch unter Linksradikalen etliche gibt.

Bernd Hüttner

erschienen u.a. in Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen Nr. 4-98 und in Contraste, Monatszeitschrift für Selbstorganisation (November 1998).
Um das Buch von Drücke entzündete sich eine kleine Fach-Debatte, die z.B. auf den entsprechenden Seiten von DadA nachzulesen ist.
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