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Rezension

Heinz Nigg (Hg.): "Wir wollen alles, und zwar subito." Die Achtziger Jugendunruhen in der Schweiz und ihre Folgen. Limmat-Verlag, Zürich 2001 (532 S. + DVD, Fr. 68.–)



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Schwer wie ein Pflasterstein ist es, dieses Buch über die Achtziger-Bewegung in der Schweiz, höchst eigenwillig in der Ästhetik, was Grafik und Layout angeht, fast so, als wollten Herausgeber und der Verlag den Geist der Achtziger-Bewegung nach zwanzig Jahren nochmals heraufbeschwören. Nicht einfach ein trockenes Geschichtsbuch oder eine nostalgische Dokumentation wollten sie publizieren, sondern ein gleichzeitig wohl geordnetes und dennoch mehrere Ebenen umfassendes Sammelsurium von Fakten, Zeitdokumenten, Aufarbeitungen und Rückblicken – also eben gerade nicht Geschichtsschreibung im herkömmlichen Sinn, in der sich Historikerlnnen die von ihnen bearbeitete Vergangenheit als Spezialistlnnen immer auch ein Stück weit aneignen.
Als Leser spürt man, selbst mit der offen zugelassenen Schlagseite einer nicht vermeidbaren "Nachträglichkeit", immer wieder das Engagement der Beteiligten am Thema, damals und heute noch. Und es kommen Zeugnisse und Quellen aus fast allen Szenen der AktivistInnen zu Wort, in verschiedensten Formen der Aufbereitung, die manchmal den Leser ein bisschen überstrapaziert. Was allerdings fehlt, sind Hinweise auf die damalige "linke" Diskussion, etwa in der "WoZ", im "Widerspruch", "Zeitdienst", "Focus", "Tell" etc. Man muss sich an die Verwischung von Wissenschaftlichkeit, Journalismus, Kolportage und graphischer Reminiszenz erst einmal gewöhnen.
Bald einmal aber merkt man, dass der Herausgeber Heinz Nigg aus Respekt vor dem Gegenstand eben der Achtziger-Bewegung wohl gar nicht anders konnte, als möglichst alle vorliegenden Quellen zu sammeln und zu berücksichtigen. Denn schliesslich war er ja damals auch mit von der Partie: als Ethnologe und Lehrbeauftragter an der Zürcher Universität, als teilnehmender "wissenschaftlicher" Beobachter, der die Videoaufnahmen der Ereignisse organisierte und damals ad hoc auswertete, diese dann auch der Bewegung zur Verfügung stellte. Die Beschlagnahmung dieses Materials durch den Erziehungsdirektor Gilgen führte damals zu einem grossen und international aufsehenerregenden Skandal um das Thema "Freie Wissenschaft versus Staatsmacht" – guess who won?
Neben den vielen Zeugnissen von Beteiligten und Bewegten aller Art und neben der breit angelegten Dokumentation von Presseerzeugnissen, Flugblättern, Videodokumentationen (in der beigelegten DVD schnittmusterartig zusammengefasst) von damals und anlässlich des 20jährigen "Jubiläums" der Bewegung, ist es vor allem das Kapitel "Wissenschaftliche Beiträge", welches mich am meisten interessiert hat. Ich erwartete in irgendeiner Art Antwort auf die Fragen, wie denn die Achtziger- Bewegung zeitgeschichtlich und politisch einzuordnen sei. Welche Resultate für Gegenwart und Zukunft ergeben sich aus einer kritischen Analyse? Welche gesellschaftlichen Voraussetzungen, sozialen Spannungsverhältnisse und Missstände waren es, die wieder zu einem solch kollektiven, kreativen "Aufruhr" führen könnten, und in welchen Ausdrucksformen könnten, sich dieser dann möglicherweise gestalten? So inhaltsreich und klug die mit der nachträglichen Analyse sich befassenden Essays sind – besonders zu erwähnen sind diejenigen von Hans Peter Kriesi, Heinz Nigg, Christian Schmid und der geschichtlich weit ausholende Beitrag von Tackenberg und Wisler –, die Antworten auf diese Fragen bleiben aus.
Man kann sich des Eindrucks, hier interessiere vorwiegend der lokalspezifische, anarchische Charakter der Ereignisse, nicht ganz erwehren. Dieser Eindruck wird noch verstärkt durch die biographischen Lebensläufe in den Interviews mit AktivistInnen; für alle war zwar die Bewegung ein wichtiger Abschnitt in ihrem Leben, aber (fast) alle haben ihn hinter sich gelassen, sich im Sinne einer prägenden aber abgeschlossenen Episode davon verabschiedet. Ob nun ausgerechnet dieses Erinnerungs-Buch wider Willen zum eigentlichen Schlussstrich geworden ist?
Ein wenig naiv und treuherzig muten auch die da und dort geäusserten Vermutungen an, die Mächtigen und vor allem die Ordnungskräfte der Stadt Zürich hätten aus den damaligen Ereignissen etwas gelernt, es gebe heute viele und genügend Freiräume für die Jugend und für die subventionierte alternative Kultur (Rote Fabrik, Berner Reithalle); die Zeit der Rebellion sei offensichtlich vorbei, denn durch die Achtziger-Bewegung hätte sich ja "eine neue urbane Kultur" (Schmid, S. 358) etablieren können. Treffen denn die vielen schneidenden, manchmal auch etwas pauschalen und protopolitisch anmutenden Äusserungen damaliger AktivistInnen und SympathisantInnen heute nicht mehr zu? Zu lesen ist nämlich auch: "Es sind nicht die Menschen, die in dieser Gesellschaft bestimmen, sondern es sind Strukturen, Mechanismen, Sachzwänge, die über die Menschen bestimmen. Die toten Sachen dominieren über die lebendigen, anstatt umgekehrt." (S.307) "Dieses Sauberkeitsbedürfnis, dieser zwanghafte Drang nach hygienischer Politik und politischer Hygiene leugnet rundweg die Existenz politischer und sozialer Interessensgegensätze." (S.317) "Lebensgeschichte und Äusserungen gewalttätiger Jugendlicher zeigen, dass sie, und zwar als Opfer, in besonderem Mass Gewalt erleben und dabei erfahren haben, dass man damit etwas erreicht." (S. 319). "Gewalt ist der Bau von Kernkraftwerken in diesem eng besiedelten Land." (S.314)
Es ist ein Verdienst der Autoren, dass sie sachlich alle Fakten der Gewalttätigkeiten, die reaktionären und die (pseudo-)revolutionären Einstellungen, dadaistischen Parolen und bitterernsten Empfindungen einander gegenüberstellen und damit im übrigen auch zeigen, dass die Achtziger-Bewegung, so kurzatmig, minderheitlich und chaotisch sie gewesen ist, ein gesamtgesellschaftliches Ereignis war, über dessen Spätfolgen oder gar nachhaltige Auswirkungen in Politik und Kultur man allerdings geteilter Meinung sein kann. Die eigentlichen Ursachen der damaligen Rebellion bleiben unklar – sie sind überdeterminiert und lassen sich auch mit nachgelieferten Vermutungen nur schwer genauer klären. Sie zeigen aber, dass das Zusammentreffen von individuell empfundenem Unbehagen im Kollektiv unerwartete und unermessliche Energien freisetzen kann: solche der Kreativität, der Autonomie, der plötzlichen Solidarität, der Polizeigewalt und auch der massivsten Gegengewalt.
Und heute? Sind denn Missstände und Unbehagen geringer als in den frühen Achtzigerjahren? Schlimmste Wohnungsnot in Zürich zum Beispiel, schamlose Abzockereien in der Wirtschaft, Zynismus in der globalisierten Welt, masslose Destruktion der Umwelt usw. Die Stadt aber ruht meistens, wenn nicht gerade ein Theaterskandal provoziert und für kurzfristige Aufregung sorgt ("Zürich schreit – Marthaler bleibt") oder die Techno-Jugend dazwischen auch mal swingt (Street-Parade). Auch nach dem Lesen dieses dicken Schinkens weiss man immer noch nicht, warum es in einer Schweizer Stadt wie Zürich oder Bern plötzlich so anders sein kann.

Berthold Rothschild


Erschienen in WIDERSPRUCH 43, «Linke und Macht», 216 Seiten, 16 EUR, Zürich 2002

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